P. Kupper u.a. (Hrsg.): Les naturalistes

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Titel
Die Naturforschenden. Auf der Suche nach Wissen über die Schweiz und die Welt 1800–2015


Herausgeber
Kupper, Patrick; Schär, Bernard C.
Erschienen
Baden 2015: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Simona Boscani Leoni, Abteilung Schweizer Geschichte vor 1800, Universität Bern

2015 hat die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) mit diesem Sammelwerk ihren 200. Geburtstag gefeiert. Am 6. Oktober 1815 wurde sie als Schweizerische Naturforschende Gesellschaft (SNG) auf dem Petit Salève (im französischen Departement Haute-Savoie) ins Leben gerufen. Die Initiative ergriffen damals der Genfer Naturforscher und Apotheker Henri-Albert Gosse (1753– 1816) und der Berner Pfarrer, Alpen- und Naturforscher Jakob Samuel Wyttenbach (1748–1830). Heute ist die SCNAT die Dachorganisation von mehr als 130 Organisationseinheiten, die 2007 sechs thematischen Plattformen zugeordnet wurden.

Der Sammelband ist dem Titel nach der Suche «nach Wissen über die Schweiz und die Welt» gewidmet. Ausgangspunkt der Herausgeber ist die Feststellung, dass die Schweiz ein «Land der Naturforschenden» sei. «Die Schweiz gehört zweifellos zu den führenden Wissenschaftsnationen der Gegenwart», schreiben sie in ihrer knappen Einleitung: ein internationaler Erfolg, der «eine grössere Geschichte » habe; und sie fügen hinzu: «(…) seit den Anfängen der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert umfasste das Naturstudium in der Schweiz stets eine grössere Gruppe von Personen, die meisten davon sogenannte ‹Liebhaber› – also Amateure in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs» (S. 12). Von 1600 bis 1800 zählte die Schweiz nicht weniger als 150 sogenannte gelehrte Gesellschaften, und es ist kein Zufall, dass die oben genannten Henri- Albert Gosse und Jakob Samuel Wyttenbach, bevor sie die SCNAT gründeten, sehr aktiv in verschiedenen solchen Gremien tätig waren.

Nebst dem Geleitwort des Präsidenten und des Generalsekretärs der SCNAT (S. 8), dem Schlusswort von Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann (S. 298– 299), der Einleitung, einem Nachwort (S. 274–278) und einer kurzen Darstellung der Geschichte der SCNAT (S. 282–295) durch die Herausgeber enthält der Sammelband fünfzehn Beiträge über Forscher (und nur über eine Forscherin), die eine enge Beziehung zum Wissenschaftsstandort Schweiz und zur SNG/SCNAT führten. Dem Trend des Schreibens wissenschaftlicher Biografien im angloamerikanischen Raum folgend, möchten die Herausgeber und die AutorInnen «Personen als Instrumente oder Sonden» benutzen, «um jene historischen Zeitabschnitte auszuleuchten, in denen diese Personen gelebt, gehandelt und gedacht haben» (S. 13).

Der Band beginnt mit einem Beitrag von Tobias Krüger über Jean de Charpentier (1786–1855) und die Entdeckung und Erforschung der Eiszeit und schliesst mit einem Blick von Alban Frei auf eines der grössten Schweizer Forschungsprogramme aller Zeiten: das 2007 lancierte SystemsX-Projekt zur Förderung der Systembiologie. Dazwischen finden wir in chronologischer Ordnung Beiträge, die sich mit Forschern aus den Bereichen der Meteorologie (Franziska Hupfer), des Erdbebendienstes (Remo Grolimund), der Botanik (Tobias Scheidegger) sowie der Rassenforschung, der Erforschung der «exotischen» Natur und der physischen Anthropologie (Bernhard C. Schär; Serge Reubi; Pascal Germann) auseinandersetzen. Vier weitere Artikel werfen einen Blick auf die Entstehung der naturhistorischen Museen in der Schweiz (Flavio Häner) und auf die Forschung im Bereich der Naturstoffchemie (Lea Haller), der Physik (Alexis Schwarzenbach) und der Strahlenbiologie (Sibylle Marti über die einzige Naturforscherin, die im Buch vorgestellt wird, Hedi Fritz-Niggli).

Drei Charakteristika der Schweizer Naturforschung tauchen immer wieder auf. Es handelt sich erstens um die Integration der NaturforscherInnen in internationale Wissenschaftsnetzwerke, was auch – so heben die Herausgeber hervor –zur Integration der Schweiz in die globalen Machtverhältnisse beigetragen hat. Viele naturgeschichtliche Sammlungen enthielten Spezimen von Pflanzen und Tieren aus Kolonialgebieten, die teilweise direkt durch Schweizer Forschungsreisende erworben worden waren. Zweitens zeigt sich wiederholt, wie die Neutralität der Schweiz Ende des 19. und während des 20. Jahrhunderts als Standortvorteil benutzt werden konnte, etwa beim Aufbau eines internationalen bibliographischen Systems durch Herbert Haviland Field in Zürich (Beitrag von Patrick Kupper) oder im Rahmen der Polar- und Tropenforschung während des Kalten Kriegs und des Dekolonisierungsprozesses (Beiträge von Lea Pfäffli und Lukas Meier). Ein drittes Charakteristikum, das von den Herausgebern betont wird, ist die Stellung der amateurs (Naturliebhaber) und Lokalforscher innerhalb der schweizerischen Wissenschaftsgeschichte bis ins 19. Jahrhundert (S. 275), wobei dies eigentlich keine Besonderheit der Schweiz, sondern auch in anderen Ländern zu beobachten ist.1

Der Sammelband ist eine spannende Lektüre, und den AutorInnen ist es gelungen, Biografien zu schreiben, in denen die ForscherInnen in ihrer sozialen und wissenschaftlichen Umgebung kontextualisiert werden. Die Entscheidung, die case studies auf die Zeit zwischen 1800 und 2015 zu beschränken, hat mit dem Gründungsjahr der SNG im Jahr 1815 zu tun und ist unter diesem Aspekt nachvollziehbar, besonders weil sich der Begriff «Wissenschaft», wie wir ihn heute verstehen, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat (man denke an die Spezialisierung der Disziplinen und die zunehmende Professionalisierung). Die Herausgeber weisen zu Recht darauf hin, dass die Erforschung der Natur in der Schweiz eine sehr lange Geschichte hat (S. 12, S. 277): Seit der Renaissance und besonders während des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelten sich naturgeschichtliche Sammlungen, botanische Gärten, meteorologische Datensammlungen sowie die Praktik des Botanisierens in rasantem Tempo. Es wäre deswegen sinnvoll gewesen, diese longue durée der Praktiken in den verschiedenen Beiträgen hervorzuheben sowie die Akteure, die darin involviert waren, öfter zu erwähnen.2 Dies würde der Komplexität der Phänomene nur gerecht.

Die Herausgeber erwähnen auch zu Recht, dass die Geschichte der Naturwissenschaften zu den unpopulärsten Themen unter Schweizer HistorikerInnen gehört (S. 274).3 Gerade deswegen ist der Sammelband wichtig, denn er weist dezidiert auf die zentrale Bedeutung dieses eher vernachlässigten Forschungsthemas für die Schweizer Geschichtsschreibung (auch für die Zeit vor 1800) hin.

1 Vgl. zum Beispiel: Steven Shapin, The scientific life. A moral history of a late modern vocation, Chicago 2008, S. 41–42.
2 Vgl. Im Sinne einer Auswahl schon abgeschlossener oder noch laufender Projekte: das Albrecht von Haller-Projekt in Bern (http://www.haller.unibe.ch/) oder das Euler-Projekt und die Edition der Bernoulli-Briefwechsel in Basel (https://www.bez.unibas.ch/pr/ bebb.php; https://www.bez.unibas.ch/pr/opera.php; https://www.bez.unibas.ch/pr/beol. php), zugegriffen am 5.9.2017.
3 Im Historischen Lexikon der Schweiz fehlen Einträge über «Wissenschaft», «Naturwissenschaft » oder «Naturforschung», und diese Themen werden auch in den jüngst erschienenen Büchern, die der Schweizer Geschichte gewidmet sind, nicht behandelt: z. B. Georg Kreis (Hg.), Die Geschichte der Schweiz, Basel 2013; Thomas Maissen, Geschichte der Schweiz, Baden 2011; François Walter, Histoire de la Suisse, Neuchâtel 2009–2010 (vgl. für diese emerkungen der Herausgeber S. 278).Geschichte der Schweiz, Baden 2011; Francois Walter, Histoire de la Suisse, Neuchâtel 2009–2010 (vgl. für diese Bemerkungen der Herausgeber S. 278).

Zitierweise:
Simona Boscani Leoni: Rezension zu: Patrick Kupper, Bernhard C. Schär (Hg.), Die Naturforschenden. Auf der Suche nach Wissen über die Schweiz und die Welt 1800–2015, Baden: Hier und Jetzt, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 484-486.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 484-486.

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